Das Internet macht einem ja gern mal Vorschläge, was man sich angucken soll – meist klicke ich das weg. Warum ich diesmal draufgeklickt hab, weiß ich gar nicht. Ach, nette Gute-Laune-Musik, dachte ich, den Tanz muss ich mir demnächst mal näher anschauen.

Dann gestern eine lange Nacht in Youtube – ich bin völlig angefixt. Was das Internet so alles hervorbringt! Da singt ein junger Postbote namens Nathan Evans in einem Kaff in Schottland gern am Feierabend mal ein Lied und nimmt mit dem Handy kleine Videos auf, die er auf Tiktok einstellt. Irgendjemand schreibt ihm eine Nachricht: „Kannste nich mal ein Shanty singen?“ Er googelt Shantys und singt ein paar, „What shall we do with the drunken sailer“ und solche Sachen. Eines der Lieder heißt „The Wellerman“. Er klopft mit der Hand das Metrum auf den Korpus seiner Gitarre und singt es a capella.

Ende Dezember 2020 stellt er das Lied ins Netz. Es gefällt ein paar Leuten irgendwo auf der Welt, sie schalten sich auf Tiktok dazu und singen eine zweite Stimme hinein oder begleiten den Gesang des jungen Postboten mit Fidel, Flöte oder Syntheziser. Es entstehen kombinierte mehrstimmige Videos. Und dann geht das Lied viral. Aus allen Himmelsrichtungen kommen Stimmen hinzu. Irgendwelche Leute laden sich die Video-Duette runter, fügen sie zu Gesamtkunstwerken zusammen und laden sie wieder hoch. Irgendwann ist das Lied in allen sozialen Netzwerken unterwegs. Millionfache Klicks hat Nathan Evans auf Tiktok, Youtube und Co. inzwischen bekommen (plus ungefähr 30 gestern Nacht von mir). Schon im März 2021 steht sein Lied auch auf den deutschen Charts ganz oben.

Ein US-Fernsehsender interviewt per Zoom den Postboten im schottischen Kaff. Die Zeitungen schreiben über ihn. Die Deutsche Welle sendet im März 2021 ein Feature über das Phänomen Wellerman. Manchmal erkennen ihn jetzt Leute auf der Straße. Und natürlich hat er inzwischen einen Vertrag mit einem Musikkonzern und ein „official video“, wo er nun nicht mehr seinen Kapuzenpulli und die Wollmütze trägt, sondern bunte Brillen aufsetzt und sich von gestylten Tänzerinnen umschwirren lässt. Der Song wird derweilen von verschiedenen Bands bearbeitet, mal rockig, mal mittelalterlich, mal elektronisch – immer aber bleibt das Lied ein sympathischer Ohrwurm. Männerchöre nehmen das Lied in ihr Repertoire auf, es entsteht eine kunterbunte Vielfalt von Videos in Tiktok und Youtube. Sie strotzen vor Singfreude. Sie verbinden Menschen miteinander, die in ihren Wohnungen hocken und die Lebenslust nicht verloren haben. Der „Wellerman“ wird in Windeseile zu einer der musikalischen Flaggen des Corona-Zeitalters.

Der Shanty-Text aus dem 19. Jahrhundert erzählt von einem neuseeländischen Walfangschiff, das einen Wal harpuniert. Der Wal lässt sich nicht fangen. Mit der Harpune im Rücken schleppt er das Schiff wochenlang hinter sich her. Die Matrosen hocken auf dem Schiff, können nichts machen und singen davon, dass sie sich nach dem Versorgungsschiff sehnen, das normalerweise ab und zu vorbei kommt, um ihre Vorräte an Tee und Zucker und Rum wieder aufzufüllen. Das Versorgungsschiff, Symbol ihres Wohlergehens, gehört der Reederei Weller und heißt „The Wellerman“. Ein Lied von Naturausbeutung, von Isoliertheit  und Ausgeliefertsein und von der banalen Sehnsucht nach dem guten Leben (oder dem, was man dafür hält, z.B. Tee mit Rum).
Den Text findet ihr auf >Wikipedia.
Eine deutsche Nachdichtung >hier.
>Wörtliche Übersetzung mit Erklärung exotischer Wörter

Ein Line-Dance-Lehrer in Australien entwirft eine Choregrafie dazu und stellt sie im Februar 2021 ins Netz. Diverse Tanzlehrer*innen greifen die Idee auf. Es kursieren mehrere Choreografien. Die des Australiers Joshua Talbot scheint sich besonders in Südkorea zu verbreiten – es ist ein südkoreanisches Tanzvideo, das mir Youtube vorgeschlagen hatte. Über diverse andere koreanische Tanzvideos stoße ich auf den Rest der Geschichte. Ich notiere mir die Tanzschritte, probiere sie aus. Inzwischen ist es nachts um halb drei. Den Ohrwurm kann ich inzwischen mitsummen, auch beim 20. Hören geht er mir noch nicht auf die Nerven. Wirklich eine nette Musik. Hochzufrieden fahre ich den PC runter und stapfe munter ins Bett. Ich fühle mich verbunden mit einem jungen schottischen Postboten, einem australischen Choregrafen, einer koreanischen Tanzlehrerin, einem rotbärtigen Sänger mit enormem Bass, der mich beeindruckt hat, einer jungen Frau mit virtuoser Fidel irgendwo da draußen im All… und mit euch: Sobald es geht, werden wir das tanzen!

> Mehr über Nathan Evans und seinen überraschenden Aufstieg
Wer den jungen Mann mal nicht-singend sehen möchte und ihn Schottisch reden hören möchte (mit englischen Untertiteln): >hier erzählt er seine Geschichte

Und jetzt von den unendlich vielen Versionen des Liedes die schönsten und die wichtigsten:

Original & Co.
Am Anfang hört und sieht man Nathan Evans erstmal ein Weilchen allein – so wie es alles angefangen hat. Dann schalten sich alle möglichen Menschen mit allen möglichen Stimmen und Instrumenten dazu. Die Aufnahmen hier hat jemand aus diversen Duo-Videos herausgeschnitten und zusammengestellt.


Und hier der mitreißende Remix in flotterem Tempo, der kurz darauf die Charts stürmte. Dies ist das südkoreanische Tanzvideo, mit dem für mich alles anfing:


Eine deutsche Nachdichtung:


Im Folgenden mal eine schwäbisch-weibliche Version. Die Sängerinnen sind der Ansicht, dass schwäbische Damen eher Männer als Wale fangen, weshalb der Text als Hymne auf den schwäbischen Kartoffelsalat geraten ist. (Mehr dazu in den >Stuttgarter Nachrichten)

Wer gern noch weitere Damenstimmen hören möchte, kann hier weiterklicken:
>Eine Frau, fünffach
>Fünf Frauen
>Powerfrau
>lieblich und beschwingt
>oder mal auf Spanisch
u.v.a.m.

Aber es gibt ja auch noch zahlreiche wunderbare Versionen von anderen singenden Männern…
z.B. die von den fünf Wellermännern (>The Wellermen)
oder vom entzückenden >Männerchor aus Somborn in Osthessen
oder Nathan zusammen mit der schleswig-holsteinischen Folk-Rock-Band >Santiano

Oder mal eine gemischte Band mit >irischem Sound
Oder mal ganz anders: als >Kinder-Piraten-Lied

Nochmal zurück zur >Urfassung: inzwischen auf CD, etwas perfekter, aber noch im alten schlichten Sound und gemütlichem Tempo.
Und hier die flottere Version im >0fficial Video (Remix mit 220 KID und Billen Ted), das der Musikkonzern mit ihm produziert hat.

Und last not least:
Wer die >Tanzschritte lernen will, bekommt sie hier schön langsam gezeigt. Oder kann vom >Choreografen selber lernen.

Ach, es gäbe ja noch so vieles…….. aber Schluss jetzt! Sonst kommt ihr heute nicht mehr ins Bett.

Corona ahoi! The Wellerman